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Große Augen

NaturMonet

Die Mitte als Grenze
Die Lainsitz in Gmünd,
Limes 1945-2004 (2003)

Ich bin den Weg von Gmünd/Bleylebenstraße bis Ehrendorf flussaufwärts gegangen. Zugegeben, ich bin keinen Weg gegangen, sondern so eng wie möglich am Fluss entlang. Ich tat es, trotzdem ich das Gefühl dabei hatte, etwas Verbotenes zu tun, als sollte ich der Grenze nicht so nahe kommen, als könnte ich jederzeit festgenommen werden und verschleppt nach Sibirien. Ich werde diese Gefühle an der Grenze zu Böhmen nicht los. Als Kind war ich öfters in Gmünd. Ich habe 1968 die russischen Panzer hinter dem Grenzbalken in Gmünd gesehen, ich habe am Abend die tschechischen Leuchtkugeln gesehen, mir hat man erzählt, dass über die Johannesbrücke Flüchtenden hinterher geschossen wurde. Ich bin mit Onkel und Tante in der Böhmzeil den Stacheldraht entlang gegangen, auf der anderen Seite standen schwer bewaffnete Grenzsoldaten. Durch diese Erfahrungen habe ich meinen Schuss weg.

An diesem 8. August 2003 wollte ich mich der realen Grenze, so wie sie heute ist, aussetzen und mein Bild von ihr durch neue Erlebnisse revidieren. Es ist mir gelungen: Statt des grauen Bildes einer gefährlichen Zone ist in meinem Kopf jetzt die Erinnerung an einen bunten, überaus lebendigen Abschnitt der Lainsitz. Nirgendwo vorher hatte ich zum Beispiel badende Menschen in meinem Fluss gesehen, hier fand ich sie. Nirgendwo vorher war der Fluss so breit und doch so malerisch wie hier, obwohl er zwischen zwei Städten, Ceske Velenice und Gmünd II, zwischen dem alten Unter Wielands und der alten Wieden durch die "Höll" fließt.

Am Fußgängergrenzübergang Gmünd startete ich meine Expedition. Ich informierte den Grenzer im Container über mein Vorhaben, nur damit man mich nicht vielleicht für einen Illegalen hält, der hinüber nach Tschechien will. Die Fußgängerbrücke kam mir irgendwie eigenwillig vor. Viel zu massiv für die leichte Beanspruchung, unmotivierte Ausweichbuchten, als wollte man Flaneuren eine Flucht vor rasenden Radfahrern ermöglichen. Erst später erfuhr ich, dass über diese Brücke die Züge vom Gmünder Lokalbahnhof, der auf heute tschechischem Gebiet lag, in Richtung Weitra-St.Martin-Großgerungs davon dampften und die Brücke daher eigentlich eine Eisenbahnbrücke ist. Das ist aber nicht das einzige, was einige der Grenzgänger hier nicht zu wissen scheinen. Ich konnte einen, der von gar nicht so weit her zu kommen schien, aufklären, dass der Bach nicht Gmünd heißt, was er sich ja selber auch ausmalen hätte können. Wie kann ein Bach "Gemünde" heißen, es heißt ja auch keine Straße "Kreuzung"!

Auf österreichischer Seite ein österreichischer Wald, viel zu eng gesetzte, leidende Fichten, auf tschechischer Seite ein wunderschöner böhmischer Garten. Im grünen Bach spiegeln sich die krummen, langen Weidenstämme des Ufers. In der Mitte des Baches "spaziert" die Staatsgrenze, wie auf einer tschechischen Warntafel zu lesen ist. Die Mitte ist hier in mehrfachem Sinn Grenze geworden. Es ist nicht die Mitte des Flusses allein, es ist die Mitte einer mitteleuropäischen Kultur, die hier durchschnitten und zur Randzone gemacht wurde.

Nicht weit, und ein kleines Bächlein mündet von herüben ein. Ruinen, behauene Steine, Gewölbe, undefinierbar. Über allem schwebt auf schönem Granit eine hohe Brücke, die Eisenfachwerksbrücke der Kaiser Franz-Josefs Bahn. Der Granitpfeiler böte Platz für nicht nur einen weiteren Aufleger. Sind diese vielleicht '45 heruntergebombt worden, sind diese nie da gewesen? Aus Friedrich Dwirkas Stadtgeschichte, die im Jahr 1905 erschienen ist, erfahren wir nur, dass man 1899 mit Gmünder Granit den Pfeiler verbreitert hat, um ein zweites Geleise über die Lainsitz legen zu können.1) 1904 habe die kommissionelle Verhandlung für den zweigleisigen Ausbau der gesamten Strecke nach Wien stattgefunden:

"Schon ist ein Teil der projektierten Arbeiten vollendet, der andere Teil der Verwirklichung nahe. Schon erhebt sich am Lainsitzflusse der schöne Bau der Wasserdruckanlage, von welcher mittels sinnreich gearbeiteter Pumpen die klaren Wasser des Flusses nach allen Punkten der  Bahnanlage getrieben werden können, umrauschen die Fluten den mächtigen, weithin blickenden Strompfeiler der großen Lainsitzbrücke, ..." 2)

Mir scheint am wahrscheinlichsten, dass der Erste Weltkrieg und die Trennung 1918 die hochfliegenden Pläne zu unerfüllbaren Träumen werden ließ.

Die Brücke finde ich in gutem Zustand vor, sie ist dennoch ein Denkmal des örtlichen Verfalls. Sie wird nämlich kaum noch genutzt. Die Euro-City-Züge von Wien nach Prag fahren heute vom Süd(!)bahnhof ab und nehmen die Strecke über Brünn. Auch nach Berlin fährt man nicht mehr mit dem "Vindobona" durch Gmünd und damit über die Lainsitz, sondern über München oder Brünn. Die einzigen überlokalen Verbindungen ab Gmünd über die Lainsitz gehen nach Budweis und nach Veseli. Auch nach Prag kommt man noch von hier ohne Umsteigen mit einem Eilzug täglich. Wenn ich www.oebb.at trauen kann, dann fahren pro Tag fünf Personenzüge von Gmünd hinüber nach Velenice und genau so viele wieder zurück. Das zweite Gleis, für das man die Pfeiler schon vor mehr als hundert Jahren erweiterte, scheint also in näherer Zukunft nicht nötig zu werden.

1905, in Dwirkas Zeit, befand sich die Stadt in einer Phase des enormen Aufschwungs. Ursache für die gute Konjunktur war in erster Linie genau diese Franz Josefs-Bahn, die 1870 fertiggestellt worden war. Sie brachte den Aufschwung, obwohl der Bahnhof nicht in direkter Nähe der Stadt sondern drüben in der Nachbargemeinde Böhmzeil angelegt wurde. Man brauchte Platz, damit der Bahnhof als zukünftiger Verkehrsknoten ausgebaut werden konnte. Die Staatsbahn hatte auch die Hauptwerkstätten für die gesamte Strecke an diesem Standort vorgesehen: Zu Personen-,Güterbahnhof und Stellwerken kamen viele Werkstätten, wie Kesselschmiede, Maschinenhalle, Dreherei, Tischlerei, gewöhnliche Schmiede, Wagenmontage, Materialdepot und Heizhaus, insgesamt 20 Gebäude. 850 Arbeiter fanden hier Beschäftigung und Altersversorgung, schreibt Dwirka. 3)

Unter dem eisernen Monument der Brücke badet eine tschechische Familie. Die Menschen scheinen hier normalerweise ungestört zu sein, es kümmert sie auch nicht die unsichtbare Linie in der Mitte des Flusses. Man badet und lagert an beiden Ufern. An der einst heißen Transitstrecke ist heute Idylle eingekehrt.

Oberhalb der Brücke, wo auf böhmischer Seite eine Bachstiege angelegt ist, auf österreichischer eine Art Wasserwerk steht, badet eine Gruppe Jugendlicher und Kinder. Von einer Mauer in Österreich springen die Buben Köpfler und tauchen nach Böhmen. Sie prallen nicht ab an der Grenze, die Grenze ist ein Gespenst, nur in unseren Hirnen vorhanden. Ein wunderbarer Platz zum Baden. Eine Schwelle staut das Wasser auf, im Tümpel ist das Wasser hoch genug zum Schwimmen. Das erste Mal auf meinem langen Weg durch das Tal sehe ich Menschen in der Lainsitz baden. Ich hatte an dieser Stelle alles andere als eine lustige Badegesellschaft erwartet. Kindheitserinnerungen werden wach, bestürmen mich.

Oben in Oberlainsitz, an dem Wehr der Pölzmühle, war unser Badeplatz. Am Abend, oft nach arbeitsreichen Tagen, traf man dort die gesamte Kinderschar des Dorfes. Man musste sich erst an das kalte Wasser gewöhnen, man musste erst die Angst vor dem dunklen Wasser überwinden, dann war es herrlich darin. Man konnte auch Kopfsprünge machen, wenn man vorsichtig war und nicht zu tief eintauchte. Man konnte weit den Wehrbach hinauf schwimmen, wenn man sich traute und die Wurzeln der Weiden nicht zu Schwärmen von Nattern werden ließ.

Und das ist nicht die ganz alte Wahrheit über den Bach, das ahnte ich schon damals. Meine Mutter und mein Vater gingen manchmal in den Bach baden, wenn es schon sehr dunkel war. Sie zogen dabei keine Badekleider an. Es war für sie das Natürlichste der Welt, nackt ins Wasser zu gehen. Auch in den alten Märchen badete man so, wie wäre es sonst so aufregend gewesen, wenn Lausbuben die Kleider vom Ufer entwendeten?

Kein österreichischer Mensch badet heute mehr in der Lainsitz. Wenn, dann erklärt man ihn für verrückt. Schon gar nicht badet man in der Lainsitz so wie im Märchen. Vielleicht haben wir auch deshalb ein wenig die Verbindung zum Fluss, zum Wasser und damit zur Erde als Ganzes verloren.

Die Familie, die Buben von der Grenze haben mir den Fluss meiner Kindheit wieder etwas näher gebracht. Vielleicht sollte ich nächsten Sommer wieder einmal oben an dem Pölzlwehr schwimmen gehen.

Ich muss weiter, auf der restlichen Strecke sehe ich überall lebensfrohe Motive für die Kamera. Blüten, Stauden, Gräser, Bodenformen, Spiegelungen im Wasser. Die Häuser an der Weitraer Straße oben stehen weit ab vom Bach. Als hätten sie Angst vorm Fluss. Sollen sie, dann bleibt es herunten so märchenhaft, wie es hier schon Äonen seit den Jugendtagen unseres Flusses ist.


Beppo Beyerl: "Die Brücke über die Lainsitz". Ein überaus unterhaltsamer Erlebnisbericht von einer Bahnfahrt Gmünd - Ceské Velenice und retour. (Leider nicht mehr im Netz)

Der Limes auf austrianmap.at

Die offiziellen Seiten der Stadt Gmünd

1) Friedrich Dwirka: Die Stadt Gmünd in Niederösterreich (Krems 1905) S. 150

2) Dwirka S. 71

3) Dwirka, S. 60

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