Netz und Spinne

Sucht man das Zeichen, in dem sich der Geist unserer Zeit am deutlichsten wiederfindet, so trifft man auf das Symbol des Netzes: Alles will heute Netz sein oder vernetzt werden, ruft nach Einbindung nicht nach Erlösung, selbst das Denken schreitet fort vom Logischen zum Vernetzten. Versuchten die Alten die Welt in eine vertikale Ordnung zu bringen, in der im Idealfall aus einem Axiom alles andere deduzierbar wurde, so bringen die Jungen alle Einzelerscheinungen in die mannigfaltigsten horizontalen Beziehungen zueinander, scheuen dabei jede Herleitung und oft auch jede Induktion zum Allgemeinen.
Das Bild des Netzes findet sich im Großen wie Kleinen, von der Weltpolitik hinab zum Management der kleinsten Arbeitsgruppe.

Da es in heutigen Tagen nicht .net ist, als Hegemon sichtbar über andere Staaten zu verfügen, empfiehlt Brzezinski, Berater am Hofe schon einiger amerikanischer Präsidenten, seinen Herren die Strategie der Einbindung von Vasallenstaaten in die unterschiedlichsten Bündnisse, Verträge, Abkommen: Das gibt den „Partnern“ das Gefühl, frei geblieben zu sein, macht weniger Umstände und ist im übrigen viel wirksamer als die augenscheinliche Errichtung von Protektoraten. Sein Zusatz in dem in Deutsch erhältlichen Büchlein „Die einzige Weltmacht“: Politische Schlagkraft behalten die USA mit diesem System der Vernetzung aber nur dann, wenn sie in den entscheidenden Domänen Militärpräsenz, Wirtschaftskraft, Technologieführerschaft und kultureller Vorherrschaft stets der Stärkste bleiben. Fehlt im Bild dieses Netzes nicht doch die Spinne?

Jahre des Rufens nach Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche machten auch in diesen eine Umstrukturierung der Herrschaft, der Lenkung notwendig, sollte doch das Ganze seine Ordnung behalten und die Bürger nicht einfach tun, wonach ihnen der Sinn steht. Bevor die Zügel gekappt würden, sollten die Pferde gebunden werden, unmerklich eines an das andere, und zwar so, daß sie als Herde weiterhin fügsam bleiben.

Alle Wissenschaftsgebiete suchten hastig nach den Kräften der Selbstordnung, die Mathematiker etwa entdeckten die Schönheit der Fraktale und Parkettierungen, suchten zusammen mit den Biologen nach den Gesetzen der Selbstregulation, entwickelten die Spieltheorie und modellierten unter anderem auch das Verhalten großer Fischschwärme, deren innere ordnende Kraft umlegbar schien für die Lenkung der Massen, für das Social Engineering. Nun, für die Nachbildung des Fischschwarms genügte, dass man jedem Einzelwesen eine einfache Vorgabe für die Regulierung seines Abstandes zum benachbarten Individuum implantierte, und schon bildeten alle zusammen ein hochkomplexes Ganzes. Die Sozialforscher analysierten das Verhalten von Gruppen, typisierten die Akteure und ihre Interaktionen, studierten zusammen mit den Seelenkundlern die Kräfte der Anziehung und Abstoßung zwischen menschlichen Versuchsexemplaren und lieferten die Theorie für das zeitgemäße Regieren: die Vernetzung der Individuen, das Zusammenbinden in der Form, daß jede Bewegung eines Einzelnen immer auch die benachbarten Individuen über feine wie rohe Kräfte mitzieht oder mitstößt, die Gruppe sich gegenseitig verstricken und unfrei werden lässt. Damit gewährleistet wird, daß die Herde in die vorgesehene Richtung läuft, braucht es gut verteilt in der Masse korrespondierende Akteure, die dem galoppierenden Gedränge die notwendigen Signale über starke anziehende oder abstoßende Kräfte vermitteln. Ein Netz im Netz, geknüpft von Außenstehenden, doch Darüberstehenden? Fehlt im Bild dieses Netzes nicht auch die Spinne?

Glaube man nur ja nicht, dass diese neue Art des Regierens keine Änderungen mit sich brächte. Sie ändert alles und zwar im Verhältnis der Gleichgestellten zueinander: War man bisher gezwungen, sich nach der nächsthöheren Instanz auszurichten, so blieb man unter Seinesgleichen doch weitgehend frei, konnte horizontal fluktuieren, seine Position ändern. Ab nun wird der Sozius aber zum Kontroll- und Ordnungsorgan, ist nicht mehr Einzelperson, sondern Knoten eines stark verwobenen Netzes, in dem auch horizontal starke Kräfte wirken.

Damit der Einzelne aber wirklich gebunden werden kann, in Team, Gruppe und Gemeinde, muss er, um endgültig und ganz teamfähig zu werden, seiner absoluten Orientierungen entkleidet werden, die sich nicht aus der Struktur der Gruppe ergeben und die ihn unabhängig machen: Glaube, Sitte, Überzeugung, Tradition, Erfahrung, Liebe, Treue. Er muss flexibel werden, elastisch, verschiebbar: Netzfähig.

Woran erkennt man, ob man zum Knoten eines Netzes gemacht werden soll? Eine alte Faustregel: Der Mensch bewahrt seine Würde, wenn er Zweck bleibt, nicht zum Mittel verkommt. Man muß sich ja nicht von jedem einwickeln lassen!